Montag, 23. September 2019

Iran:Wut nach Tod des „blauen Mädchens"

Sahar Khodayari


Iran:Wut nach Tod des „blauen Mädchens


Sahar Khodayari
Quelle.Iran Journal
Sahar Khodayari, ein weiblicher iranischer Fußballfan, ist am Montag eine Woche nach ihrer Selbstverbrennung in einem Teheraner Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen.
Khodayari hatte am 12. März versucht, als Mann verkleidet das Stadionverbot für Frauen zu umgehen, um das Fußballspiel ihrer Lieblingsmannschaft Esteghlal in der asiatischen Champions League gegen Al-Ain aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in Teheran zu sehen. Die 29-Jährige fiel der Security jedoch auf und wurde am Eingang des Azadi-Stadions festgenommen. Sie musste zwei Tage in Untersuchungshaft verbringen und kam dann zunächst gegen eine Kaution von 50 Millionen Tuman, umgerechnet 5.000 Euro, frei.
Die Justiz leitete gegen Khodayari ein Verfahren wegen Beleidigung der öffentlichen Ordnung und Widerstand gegen die Polizei ein. Am 2. September erfuhr sie nach ihrer ersten Anhörung, dass ihr bis zu sechs Monate Haftstrafe drohten. Nach dem Verlassen des Revolutionsgerichts in Teheran übergoss sich die junge Frau mit Benzin und zündete sich an.
Khodayari wird in den sozialen Netzwerken nach der Farbe ihrer Lieblingsmannschaft Esteghlal als „blaues Mädchen“ bezeichnet. Unter dem Hashtag „Blaues Mädchen“ prangern nun Tausende Iraner*innen das Zutrittsverbot für Frauen in Sportstadien als „mittelalterliche und menschenrechtsfeindliche“ Maßnahme an und fordern deren Aufhebung. Die Abgeordnete Parvaneh Salahshouri schrieb auf Twitter: „Wo Männer die Grundrechte von Frauen missachten und Frauen diese Unterdrückung offenbar unterstützen, sind alle an der Selbstverbrennung von Sahar mitschuldig.“
Auch prominente Sportler äußern ihre Trauer um Khodayari. Der ehemalige Fußballspieler Ali Daei postete auf Instagram ein blau gefärbtes Foto, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das einen Ball in der Hand hält und mitten in einem Stadion in Flammen steht.
Quelle.Iran Journal
http://iranjournal.org/news/iran-wut-tod-blaues-maedchen
vom 10.09.2019
Es fällt auf, dass die Webseite Iran Journal den persischen Begriff „doxtar“ mit Mädchen übersetzt, obwohl es sich laut eigenen Angaben des Artikels um eine 29-jährige Frau handelt. Dahinter steht noch immer die sexistische Verwendung des Begriffs „doxtar“ für Jungfrau, die in Deutschland nicht mehr üblich ist.

Mittwoch, 11. September 2019

Samuel Salzborn | Essay über die Folgen von 9/11



'Die antisemitische Revelution'  | Link1

'Schon vor 9/11 haben militärische und paramilitärische Auseinandersetzungen zunehmend eine asymmetrische Form angenommen. In dieser führen nicht mehr eindeutig und rational voneinander abgrenzbare Kriegsparteien unter der Ägide einer durch das Völkerrecht formalisierten Kriegsorganisation miteinander Krieg. Vielmehr üben zunehmend nichtstaatliche Akteure jenseits völkerrechtlicher Übereinkünfte parapolizeiliche, paramilitärische und terroristische Handlungen aus, die sich nicht gegen ­reguläre Streitkräfte als Kombat­­tant(inn)en, sondern kollektivistisch und identitär gegen Zivilist(inn)en und damit gegen jeden Menschen richten, der nicht als Teil des eigenen Kollektivs unterstellt wird.
Damit kämpfen die beteiligten Parteien nicht um die Geltung einer staatlichen Verfassung – selbst bei Bürgerkriegen lag das Ziel vor allem darin, die jeweils gültige durch eine andere, eine alternative Verfassung zu ersetzen. Sie kämpfen vielmehr um einen erheblich größeren Verfassungsbegriff, nämlich: um die Verfasstheit der Welt, die nach homogen-identitären Kriterien neu organisiert werden soll.
Samuel Salzborn

Die Auswahl der Ziele der Anschläge von 9/11 galt, das wurde sowohl in Erklärungen der Islamisten explizit formuliert wie durch interpretative Deutungen der symbolischen Bedeutung der Twin Towers auch implizit herausgearbeitet, der westlichen Welt als solcher. Es war nicht nur ein Anschlag auf die USA, sondern ein Anschlag auf die durch sie verkörperten Werte von Freiheit und Gleichheit, letztlich ein Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne.
Und es war ein antisemitischer Anschlag, weil im islamistischen Weltbild alles, was abgelehnt wird, letztlich jüdisch identifiziert wird und die Anschläge von 9/11 den Auftakt für eine antisemitische Revolution bilden sollten. Eine Revolution, an deren Ende dem Willen der Islamisten folgend eine islamistisch unterworfene Welt stehen soll, in der sämtliche ­Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört und sämtlicher emanzipativer Fortschritt zum Stillstand gebracht werden soll.
Das Weltbild des Islamismus
aus dem am 17. September bei Beltz Juventa erscheinenden Buch „Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster“. 258 Seiten, 24,95 Euro
Gut ein Jahr nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte die russische Tageszeitung Известия (Iswestija) sehr weitsichtig davor gewarnt, dass es sich bei dem internationalen Terrorismus um den ersten „echten Weltkrieg“ handele, obgleich er als solcher nicht angekündigt sei. Er finde überall auf der Welt statt: auf Bali, in Moskau, in New York und Washington.
Die Zeitung betonte, dass es keine Zweifel geben könne und vor allem auch nicht mehr geben dürfe, dass die menschliche Zivilisation mit dieser terroristischen Bedrohung einen gemeinsamen Feind habe: „Die hehren Worte vom Leben des freien Menschen als wichtigster Kostbarkeit der Zivilisation haben aufgehört, nur Pathos zu sein.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Dieser „echte Weltkrieg“ war und ist gekennzeichnet durch seine Entgrenzung: territorial, aber auch weltanschaulich. Er ist nicht mehr gebunden an Staaten, er findet als terroristischer Anschlag statt, aber auch als Cyberkrieg, er spaltet Gesellschaften in Teile, die sich emanzipatorischen und aufklärerischen Werten verbunden fühlen, und solche, die Homogenität und Identität als Zwangssysteme etablieren wollen.
Letzteres verfolgen dabei nicht nur die Islamisten, denn gerade in Europa und Amerika haben sich rechtsextreme Bewegungen etabliert, die das Weltbild des Islamismus spiegelbildlich reproduzieren und mit ihm den Willen zur antisemitischen Revolution teilen. Genau deshalb hassen die rechtsextremen Bewegungen gerade alle nichtradikalen Muslime, die sich mit dem deistischen Postulat der Aufklärung arrangiert haben und in der Privatisierung ihres Glaubens keinen Nachteil sehen.
Gegen das Individuum
Dieser antisemitische Weltkrieg ist weltanschaulich entgrenzt, weil der Hass auf die Aufklärung und die mit diesem verbundene antisemitische Regression quer zu allen politischen Kategorialisierungen anzutreffen ist. Der antisemitische Krieg verbindet Identitäre auf aller Welt miteinander. Die Revolution der Antisemit(inn)en bricht sich dabei schrittweise Bahn – mal an der Macht, mal als Bewegungen aktiv, deren Ziel die Fixierung von kollektiven Identitätskonzepten ist, die mal völkisch bestimmt werden, mal islamistisch, in jedem Fall essenzialistisch, antiaufklärerisch und gegen das Individuum als Subjekt gerichtet.
Die liberale und aufgeklärte Welt befindet sich in der Defensive, auch mit Blick auf ihre stark ramponierte Selbstlegitimation, deren Reformulierung die Grundlage für eine neue Renaissance emanzipativer Bewegungen sein müsste. Denn entgegen mancher postkolonialer Utopien kann eine solche Emanzipation nicht ohne und schon gar nicht gegen den Westen geschehen. Die neuen identitären Bewegungen bilden sich nämlich nicht nur in der politischen Rechten, sondern auch in der Linken.
Sich postkolonial gerierende Gruppen hetzen oft massiv gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten (Israel)
Gerade einige der sich postkolonial gerierenden Gruppierungen hetzen in Europa massiv gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten (Israel) und machen dabei sogar gemeinsame Sache mit Islamisten und Neonazis, wenn es nur gegen den gemeinsamen Feind geht – wie bei den antisemitischen Großdemonstrationen im Sommer 2014.
Und die den völkischen Konzepten der extremen Rechten konzeptionell nahezu identische kollektiv-repressive Identitätspolitik, wie sie im Gefolge der Critical-Whiteness-Ansätze daherkommt, will nun gar nicht mehr demokratisch und pluralistisch über Ziele und Inhalte streiten, sondern reduziert alles und jeden auf eine vermeintliche Identität und hierarchische, antiemanzipative Vorstellungen von irreversiblen „Sprechorten“ innerhalb von Gesellschaften. Statt einer Kontroverse über Positionen verkommt öffentliche Auseinandersetzung zunehmend zu einem Kampf um Identitäten, was Emanzipation durch Repression ersetzt.
Das Leben des freien Menschen
9/11 war für diesen Entgrenzungsprozess zwar nicht der Auftakt, aber der historische Kristallisationspunkt. 9/11 war das seismografische Zentrum, von dem aus die bestehende Weltordnung tatsächlich infrage gestellt wurde und die alleinige Hegemonie der amerikanischen Supermacht objektiv gebrochen wurde – nicht an diesem einen Tag, aber er wurde zum sichtbaren Zeichen für die Verwundbarkeit der westlichen Welt und zur Mobilisierungsfolie für die Kräfte der Gegenaufklärung weltweit.
Das Banner, unter dem sich diese sammeln, ist das Banner des Antisemitismus. 9/11 war der Auftakt einer antisemitischen Revolution, die sich gegenwärtig weltweit im Gange befindet und die, wie jede Revolution, auch zerschlagen werden kann. Um dies in Angriff zu nehmen, muss man aber ihren Kern als antisemitische Revolution begreifen und erkennen, dass mit ihr in der Tat alles auf dem Spiel steht, was die Iswestija „wichtigste Kostbarkeit der Zivilisation“ genannt hat: das Leben des freien Menschen.'  

Autor:  Samuel Salzborn