'Die antisemitische Revelution' |
Link1
'Schon
vor 9/11 haben militärische und paramilitärische Auseinandersetzungen
zunehmend eine asymmetrische Form angenommen. In dieser führen nicht
mehr eindeutig und rational voneinander abgrenzbare Kriegsparteien unter
der Ägide einer durch das Völkerrecht formalisierten Kriegsorganisation
miteinander Krieg. Vielmehr üben zunehmend nichtstaatliche Akteure
jenseits völkerrechtlicher Übereinkünfte parapolizeiliche,
paramilitärische und terroristische Handlungen aus, die sich nicht gegen
reguläre Streitkräfte als Kombattant(inn)en, sondern
kollektivistisch und identitär gegen Zivilist(inn)en und damit gegen
jeden Menschen richten, der nicht als Teil des eigenen Kollektivs
unterstellt wird.
Damit kämpfen die beteiligten
Parteien nicht um die Geltung einer staatlichen Verfassung – selbst bei
Bürgerkriegen lag das Ziel vor allem darin, die jeweils gültige durch
eine andere, eine alternative Verfassung zu ersetzen. Sie kämpfen
vielmehr um einen erheblich größeren Verfassungsbegriff, nämlich: um die
Verfasstheit der Welt, die nach homogen-identitären Kriterien neu
organisiert werden soll.
|
Samuel Salzborn |
Die Auswahl der Ziele der
Anschläge von 9/11 galt, das wurde sowohl in Erklärungen der Islamisten
explizit formuliert wie durch interpretative Deutungen der symbolischen
Bedeutung der Twin Towers auch implizit herausgearbeitet, der westlichen
Welt als solcher. Es war nicht nur ein Anschlag auf die USA, sondern
ein Anschlag auf die durch sie verkörperten Werte von Freiheit und
Gleichheit, letztlich ein Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne.
Und es war ein antisemitischer
Anschlag, weil im islamistischen Weltbild alles, was abgelehnt wird,
letztlich jüdisch identifiziert wird und die Anschläge von 9/11 den
Auftakt für eine antisemitische Revolution bilden sollten. Eine
Revolution, an deren Ende dem Willen der Islamisten folgend eine
islamistisch unterworfene Welt stehen soll, in der sämtliche
Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört und
sämtlicher emanzipativer Fortschritt zum Stillstand gebracht werden
soll.
Das Weltbild des Islamismus
aus dem am 17. September
bei Beltz Juventa
erscheinenden Buch „Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den
Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster“. 258
Seiten, 24,95 Euro
Gut ein Jahr nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte die russische Tageszeitung Известия (Iswestija)
sehr weitsichtig davor gewarnt, dass es sich bei dem internationalen
Terrorismus um den ersten „echten Weltkrieg“ handele, obgleich er als
solcher nicht angekündigt sei. Er finde überall auf der Welt statt: auf
Bali, in Moskau, in New York und Washington.
Die Zeitung betonte, dass es
keine Zweifel geben könne und vor allem auch nicht mehr geben dürfe,
dass die menschliche Zivilisation mit dieser terroristischen Bedrohung
einen gemeinsamen Feind habe: „Die hehren Worte vom Leben des freien
Menschen als wichtigster Kostbarkeit der Zivilisation haben aufgehört,
nur Pathos zu sein.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im
eKiosk oder gleich im praktischen
Wochenendabo. Und bei
Facebook und
Twitter.
Dieser „echte Weltkrieg“ war und
ist gekennzeichnet durch seine Entgrenzung: territorial, aber auch
weltanschaulich. Er ist nicht mehr gebunden an Staaten, er findet als
terroristischer Anschlag statt, aber auch als Cyberkrieg, er spaltet
Gesellschaften in Teile, die sich emanzipatorischen und aufklärerischen
Werten verbunden fühlen, und solche, die Homogenität und Identität als
Zwangssysteme etablieren wollen.
Letzteres verfolgen dabei nicht
nur die Islamisten, denn gerade in Europa und Amerika haben sich
rechtsextreme Bewegungen etabliert,
die das Weltbild des Islamismus spiegelbildlich reproduzieren
und mit ihm den Willen zur antisemitischen Revolution teilen. Genau
deshalb hassen die rechtsextremen Bewegungen gerade alle nichtradikalen
Muslime, die sich mit dem deistischen Postulat der Aufklärung arrangiert
haben und in der Privatisierung ihres Glaubens keinen Nachteil sehen.
Gegen das Individuum
Dieser antisemitische Weltkrieg
ist weltanschaulich entgrenzt, weil der Hass auf die Aufklärung und die
mit diesem verbundene antisemitische Regression quer zu allen
politischen Kategorialisierungen anzutreffen ist. Der antisemitische
Krieg verbindet Identitäre auf aller Welt miteinander. Die Revolution
der Antisemit(inn)en bricht sich dabei schrittweise Bahn – mal an der
Macht, mal als Bewegungen aktiv, deren Ziel die Fixierung von
kollektiven Identitätskonzepten ist, die mal völkisch bestimmt werden,
mal islamistisch, in jedem Fall essenzialistisch, antiaufklärerisch und
gegen das Individuum als Subjekt gerichtet.
Die liberale und aufgeklärte Welt
befindet sich in der Defensive, auch mit Blick auf ihre stark
ramponierte Selbstlegitimation, deren Reformulierung die Grundlage für
eine neue Renaissance emanzipativer Bewegungen sein müsste. Denn
entgegen mancher postkolonialer Utopien kann eine solche Emanzipation
nicht ohne und schon gar nicht gegen den Westen geschehen. Die neuen
identitären Bewegungen bilden sich nämlich nicht nur in der politischen
Rechten, sondern auch in der Linken.
Sich postkolonial gerierende Gruppen hetzen oft massiv gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten (Israel)
Gerade einige der sich postkolonial gerierenden Gruppierungen
hetzen in Europa massiv gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten
(Israel) und machen dabei sogar gemeinsame Sache mit Islamisten und
Neonazis, wenn es nur gegen den gemeinsamen Feind geht – wie bei den
antisemitischen Großdemonstrationen im Sommer 2014.
Und die den völkischen Konzepten der extremen Rechten konzeptionell nahezu identische
kollektiv-repressive Identitätspolitik, wie sie im Gefolge der Critical-Whiteness-Ansätze
daherkommt, will nun gar nicht mehr demokratisch und pluralistisch über
Ziele und Inhalte streiten, sondern reduziert alles und jeden auf eine
vermeintliche Identität und hierarchische, antiemanzipative
Vorstellungen von irreversiblen „Sprechorten“ innerhalb von
Gesellschaften. Statt einer Kontroverse über Positionen verkommt
öffentliche Auseinandersetzung zunehmend zu einem Kampf um Identitäten,
was Emanzipation durch Repression ersetzt.
Das Leben des freien Menschen
9/11 war für diesen
Entgrenzungsprozess zwar nicht der Auftakt, aber der historische
Kristallisationspunkt. 9/11 war das seismografische Zentrum, von dem aus
die bestehende Weltordnung tatsächlich infrage gestellt wurde und die
alleinige Hegemonie der amerikanischen Supermacht objektiv gebrochen
wurde – nicht an diesem einen Tag, aber er wurde zum sichtbaren Zeichen
für die Verwundbarkeit der westlichen Welt und zur Mobilisierungsfolie
für die Kräfte der Gegenaufklärung weltweit.
Das Banner, unter dem sich
diese sammeln, ist das Banner des Antisemitismus. 9/11 war der Auftakt
einer antisemitischen Revolution, die sich gegenwärtig weltweit im Gange
befindet und die, wie jede Revolution, auch zerschlagen werden kann. Um
dies in Angriff zu nehmen, muss man aber ihren Kern als antisemitische
Revolution begreifen und erkennen, dass mit ihr in der Tat alles auf dem
Spiel steht, was die
Iswestija „wichtigste Kostbarkeit der Zivilisation“ genannt hat:
das Leben des freien Menschen.'
Autor: Samuel Salzborn