Zu der Demonstration, die vor der russischen
Botschaft endet, haben alle Jugendorganisationen der im finnischen
Parlament Eduskunta vertretenen Parteien aufgerufen. So stand auf der
Kundgebung neben der Linksjugend oder der Jugendorganisation der RKP,
die die schwedischsprachige Minderheit vertritt, auch der Nachwuchs der
rechtsnationalistischen Partei Wahre Finnen (Perussuomalaiset). Zu sehen
sind unzählige ukrainische Fahnen, Plakate und Banner auf Russisch,
Finnisch und Englisch; auf einigen wird der Beitritt Finnlands zur Nato
gefordert. Auch die offenbar unvermeidlichen »Putler«-Darstellungen,
Porträts des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit zwei Finger
breitem Hitlerbart, sind dutzendfach zu sehen.
»Es ist nicht unser Krieg, die Russen sind nicht für den Krieg, haben
aber keine Chance, auf die Regierung einzuwirken.« Olga Ryzhok,
russische Designerin
Die Route der Demonstration führt vorbei am Obelisken
Keisarinnankivi, der an den ersten Besuch der russischen Zarin Alexandra
Fjodorowna (vormals Charlotte von Preußen) in Helsinki im Jahr 1833
erinnern soll. Bei einem Spaziergang durch die Innenstadt von Helsinki
lassen sich Statuen von Zar Alexander II., orthodoxe Kirchen und andere
Reminiszenzen an Finnlands historische Zugehörigkeit zum russischen
Zarenreich nicht übersehen. Umso lauter scheint die immergleiche Parole
aus den Reihen der Demonstration zu schallen: »Venäjä ulos! Putin alas!«
(Russland raus! Nieder mit Putin!)
Die Reaktion finnischer Medien auf den Krieg, Posts in den sozialen
Medien und Unterhaltungen mit Finninnen und Finnen machen klar: Auch
Erinnerungen an den finnisch-sowjetischen Winterkrieg von 1939/1940
hallen als Echo wider. Die Ukraine hat im Verteidigungskampf gegen das
aggressiv auftretende, imperialistische und militärisch deutlich
überlegene Russland volle Sympathie in Finnland. Auch wenn in den
Gesprächen mit den Demonstrierenden in Helsinki Schock oder
Betroffenheit deutlich werden, scheint man von Putins Angriffskrieg
nicht wirklich überrascht zu sein.
Zwischen Russland und Ukraine
Mikko K., Arzt an der Universitätsklinik, kommt vor der Nachtschicht
noch mit seiner Partnerin zur Demonstration. »Ich weiß, wie Menschen mit
Schussverletzungen aussehen, ich weiß, wie es ist, wenn Menschen leiden
und sterben. Deswegen bin ich hier«, so der Mittvierziger. Seine wachen
Augen hinter der kleinen, runden Brille huschen hin und her: »Wir haben
so viele russische Kolleginnen und Kollegen in der Klinik, es sind die
besten Leute. Sie haben mir geholfen, mein Plakat auf Russisch zu
beschreiben. Einige meiner Vorfahren sind im Winterkrieg gestorben, aber
wir sind daran gewöhnt, dass Russland immer nahe war. Ich fühle mich
gerade nicht als Finne besonders bedroht, sondern als Europäer.«
Auch die Vorsitzende der Linksjugend
(Vasemmistonuoret), Pinja Vuorinen, beteiligt sich an der
Demonstration. Obgleich bekennende Kommunistin, hat sie nach dem Abitur
einen freiwilligen Wehrdienst als Reserveoffizierin abgeschlossen. Die
25jährige ist nicht überrascht über die Frage, ob sie Finnland in einer
ähnlichen Situation verteidigen würde. »Ich mache mir jetzt zuerst
Sorgen um die Ukrainerinnen und Ukrainer und sehe nicht, dass Finnland
die gleiche Gefahr droht. Aber ja, ich wäre bereit, diese Gesellschaft
und diese Grenzen mit der Waffe zu verteidigen«, sagt sie.
Vasemmistonuoret ist einer der größten politischen Jugendverbände in
Finnland und hat über 3 300 Mitglieder. »Ich weiß, dass manche unserer
Aktiven und ihre Freundinnen und Freunde in den letzten Tagen bereits
antirussischen Rassismus beziehungsweise Russophobie erfahren haben«,
sagt Vuorinen im Gespräch mit der Jungle World.
Die beiden Studenten Timmi aus Sankt Petersburg und Artemij aus
Moskau haben über Chats von einem Übergriff auf eine Russisch sprechende
Frau in einem Supermarkt in Helsinki gehört. Viel mehr als
antirussische Übergriffe fürchten die beiden aber eine Abschiebung nach
Russland. »Wir sind hierhergekommen, um zu bleiben, in Putins Russland
können wir einfach nicht mehr sein«, so Artemij. Die beiden
Mittzwanziger sprechen gefasst in flottem Englisch über Putins Politik.
»Wir sind nicht überrascht vom Krieg – in der Ukraine ist seit acht
Jahren Krieg. Ich liebe meine ukrainischen Freunde, die ukrainische
Kultur und Sprache, aber in Russland könnte ich das gerade nicht laut
sagen«, sagt Timmi.
Eine Frau Anfang 40, die mit den beiden jungen
Männern Russisch spricht, unterbricht das Gespräch: »Ich bin finnische
Feministin, aber auch Männerrechtlerin, wenn es um Russland geht.« Mit
energischen Gesten unterstreicht sie ihre Theorie über die russischen
Gesellschaft: »Es ist ein Männer-Frauen-Gefälle! Die Männer werden in
der russischen Armee geschliffen, in Kriegen verheizt, saufen sich zu
Tode oder begehen Suizid. Übrig bleiben alleinerziehende Mütter mit
Söhnen, die eine starke Über-Vaterfigur suchen – Putin gibt ihnen das.«
Sie sorge sich ebenso um die russischen und russischsprachigen
Einwohner Finnlands: »Wir müssen jetzt Aufklärung betreiben, damit die
Kinder russischsprachiger Eltern in den Schulen nicht leiden müssen.
Die Nato winkt
Einer EU-Studie von 2012 zufolge gaben damals 27 Prozent der befragten
Russinnen und Russen in Finnland an, in den vorangegangenen zwölf
Monaten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert worden zu sein,
weit über dem EU-Durchschnitt. In dem Land mit 5,5 Millionen Einwohnern
leben ungefähr 90 000 Russinnen und Russen. Diese sehen sich online
bereits heftigen Verunglimpfungen ausgesetzt.
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Schnell in die Nato! Das fordern viele Protestierende
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Timo Haapala, Politikredakteur des größten Boulevardblatts des
Landes, Ilta-Sanomat, ließ sich auf Twitter in einem vermutlich
alkoholinduzierten Schreibwahn zu Kurztexten hinreißen, die an der
Grenze zur Volksverhetzung kratzen. Haapala zufolge solle man alle
Russen für das Handeln Putins verantwortlich machen, damit Russland
endlich lerne. Alle Russen seien schuldig und Finnland sollte von Russen
gesäubert werden, »damit Putin aufwacht«. Tags darauf erschien in dem
Blatt ein Leitartikel, in dem es hieß, Russen seien nicht für die
Handlungen Putins verantwortlich.
Die 31jährige Designerin Olga Ryzhok hofft auf Verständnis in
Finnland für die Menschen, die unter dem autokratischen Regime Putins
leben: »Es ist nicht unser Krieg, die Russen sind nicht für den Krieg,
haben aber keine Chance, auf die Regierung einzuwirken. Ich kenne in
Russland vielleicht zwei, drei Personen, die den Angriffskrieg irgendwie
rechtfertigen.« Ryzhok sieht sich in einer komplexen Lage: »Ich
identifiziere mich als russisch, habe die russische Staatsbürgerschaft,
mein Vater und mein Nachname sind ukrainisch und die meisten meiner
Verwandten leben in der Ukraine. Vielen Leuten geht es ähnlich.«
Der politische Referent der Partei Linksbündnis
(Vasemmistoliitto), Henrik Jaakkola, erläutert im Gespräch mit der
Jungle World, wie finnische Linke zu Russland stehen: »In Finnland wirkt
eine andere Interpretation als bei vielen europäischen Linken. Putins
Agieren wird schon länger als imperialistisch verstanden, Russland als
ein kapitalistischer Staat. Viele Linke in Europa sind im Denken des
Kalten Kriegs stehengeblieben und haben ihr Verständnis nicht an das 21.
Jahrhundert angepasst.« Der 32jährige ehemalige Generalsekretär der
Linksjugend ist für seine Twitter-Schlachten mit Neoliberalen und
Rechtspopulisten bekannt. »Ich bin stolz, dass in Finnland so viele
Menschen für die Ukraine auf die Straße gehen. Die Position der Linken
ist es nun, der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den Angriff
beizustehen«, betont Jaakkola. Auf die Frage, was er von der nun
unvermeidlich gewordenen Beitrittsdiskussion halte, meint er: »Die
Nato-Beitrittsdiskussion wird jetzt wieder heißlaufen, aber es gibt
auch viele zurückhaltende Stimmen. Es ist jetzt nicht die Zeit für
überhastete Entscheidungen, und am Ende sehen das viele Finnen
ähnlich.«
Es ist fraglich, ob er sich mit dieser Einschätzung nicht irrt. In
der jüngsten Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders Yleisradio, die
zu Beginn des Kriegs durchgeführt wurde, befürworteten 53 Prozent der
Befragten eine Nato-Mitgliedschaft Finnlands, so viele wie nie zuvor.
Mittlerweile sind in allen Fraktionen des finnischen Parlaments
Nato-Beitrittsbefürworter zu finden.
Ende der »Finnlandisierung«
Finnland war im Kalten Krieg blockfrei, soziokulturell und ökonomisch
stark mit Westeuropa und vor allem Schweden verbunden, aber bis 1992
durch den finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag der UdSSR
verpflichtet. Der Vertrag sah explizit vor, dass Finnland auch von
Westen kommende Angreifer für die Sowjetunion bekämpfen müsse. Der damit
einhergehende russische Einfluss auf die Innenpolitik und die besonders
vorsichtige Politik des nordischen Staats gegenüber seinem großen
Nachbarn führte dazu, dass »Finnlandisierung« zu einem Schimpfwort in
der westdeutschen Politik wurde. Bis zu 20 Prozent des finnischen
Handelsvolumens machte der Handel mit der Sowjetunion aus, deren Zerfall
führte mit zur schlimmsten Wirtschaftskrise der finnischen Geschichte.
Welche Auswirkungen die jetzige Abkopplung Russlands von den Märkten
der EU auf die finnische Wirtschaft haben wird, ist noch nicht absehbar.
Finnland gehört zusammen mit Litauen zu den am meisten vom Handel mit
Russland abhängigen Nationalökonomien in der EU, doch das
Handelsvolumen mit den anderen EU-Staaten oder den USA übersteigt das
mit Russland um ein Vielfaches. Bereits in den ersten Tagen der
russischen Invasion in der Ukraine war in Finnland eine gewisse
Abwendung von Russland spürbar. So hat der in Helsinki beheimatete
Eishockeyverein Jokerit die Saison in der russischen Kontinentalen
Hockeyliga (KHL) vorzeitig beendet. Der etwas kryptischen
Pressemitteilung zufolge sei eine Fortführung der Saison in dieser
»bedauerlichen Weltlage« unmöglich. Jokerit und Dinamo Riga, das sich
nun ebenfalls aus der KHL zurückgezogen hat, waren die einzigen beiden
Eishockeyvereine aus EU-Staaten, die in der lukrativen höchsten
russischen Spielklasse spielten.
»Einige meiner Vorfahren sind im Winterkrieg gestorben, aber wir sind
daran gewöhnt, dass Russland immer nahe war. Ich fühle mich gerade
nicht als Finne besonders bedroht, sondern als Europäer.« Mikko K.,
Demonstrant
Die Fluggesellschaft Finnair, deren Hauptaktionär der finnische Staat
ist, erwartet durch die Überflugverbote über Russland große
Einnahmeverluste. Finnair hat sich insbesondere auf Langstreckenflüge
nach Asien spezialisiert; diese nehmen ausnahmslos die nördliche Route
über Sibirien und werden absolut unrentabel, wenn dieser Weg versperrt
ist.
Wie sich die finnisch-russischen Beziehungen nun entwickeln, ist
unklar. Dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö von der konservativen
Sammlungspartei Kokoomus wurde bislang ein pragmatischer Umgang mit
Russland und ein professionelles Verhältnis zu Putin nachgesagt. Dem
linken Politiker Jaakkola zufolge agierte er in der Außen- und
Sicherheitspolitik besonnen: »Niinistö betont Gelassenheit und das
Vertrauen, dass unsere Landesverteidigung einer Krisensituation
gewachsen ist.«
Auf dem Senatsplatz in Helsinki endet eine zweite, gleichzeitig
stattfindende Demonstration mit Dutzenden Menschen, die von ukrainischen
Exilgruppen organisiert wurde. Den dort Demonstrierenden wird dieser
Pragmatismus kaum mehr reichen. Es sind viele ernste und traurige
Gesichter zu sehen, wütende und entschlossene Parolen zu hören. Eine
estnische Fahne weht neben Dutzenden ukrainischen. Neugierige betrachten
die Ansammlung von den aufgehäuften Schneehügelchen aus.