Dienstag, 25. Juli 2023

Türkei: Sivas und das Massaker an die Aleviten

Der Kampf um mehr Sichtbarkeit: hier bei einer Kundgebung im Jahr 2020 | Foto: Florian Boillot

 Der Brandanschlag von Sivas bezeichnet den pogromartigen Angriff einer religiös motivierten und aufgepeitschten Menge auf Teilnehmer eines alevitischen Festivals und den anschließenden Brand des Madımak-Hotels am 2. Juli 1993 in der zentralanatolischen Stadt Sivas. Dabei kamen 37 Personen zumeist alevitischen Glaubens ums Leben. Im offiziellen türkischen Sprachgebrauch wird es als Sivas-Ereignis bezeichnet. Aleviten sprechen von dem Sivas-Massaker. https://de.wikipedia.org/wiki/Brandanschlag_von_Sivas

Jahrestag des Massakers von Sivas: Die Täter leben unter uns

Am Sonntag erinnern Ale­vi­t*in­nen an die Menschen, die 1993 im anatolischen Sivas von einem Mob verbrannt wurden.

„Wenn ich jemanden aus Sivas kennenlerne, frage ich zuerst: ‚Bist du einer von den Brandstiftern oder einer der Verbrannten?‘“, erklärt Halit Büyükgöl. „Damit versucht man herauszufinden, ob jemand Alevit oder Sunnit ist.“ Büyükgöl ist Mitglied im Ehrenrat der Alevitischen Gemeinde in Kreuzberg. Anfang der 1980er Jahre kam er als Jugendlicher nach Berlin. Hier organisiert er seit 30 Jahren an jedem 2. Juli die Gedenkdemonstration für die Opfer des Brandanschlags in der anatolischen Stadt.

„Ich erinnere mich, wie wir 1993 erfuhren, dass im Madımak-Hotel Feuer gelegt und die Menschen ermordet wurden“, erzählt Büyükgöl mit fester Stimme. „Wir saßen im Alevitischen Verein, damals noch im Wedding. Alles wurde live im Fernsehen übertragen, über acht Stunden lang.“ Er schildert, wie der kleine Versammlungsraum irgendwann nicht mehr ausreichte, weil immer neue Menschen hineinströmten, um Informationen zu erhalten. „Damals hatten wir noch kein Internet. Wir starrten gebannt auf den Fernseher, um zu erfahren, was passierte.“

 

Nach einer Weile wichen sie auf den großen Hochzeitssaal unter ihrem Treffpunkt aus. „Auf dem Bildschirm sahen wir, wie unsere Idole verbrannten. Einige waren direkte Angehörige unserer Freun­d*in­nen hier in Berlin.“ Am Wochenende darauf gab es die erste Demonstration am Kottbusser Tor, sie findet seitdem jährlich in verschiedenen deutschen Städten statt.

Als das Madımak-Hotel in Sivas am 2. Juli 1993 von einem islamistischen Mob in Brand gesteckt wurde, starben 33 Menschen, die sich dort für ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal versammelt hatten. Die Ale­vi­t*in­nen leben seit Jahrhunderten in der Türkei, ihre Religion ist dort bis heute nicht offiziell anerkannt. In den 1990ern gewann der politische Islam in der Türkei Aufwind. Weder Polizei noch Militär schritten in Sivas ein. Zu den Opfern gehörten die bedeutendsten alevitischen Dichter, Musiker und Schriftsteller der Türkei.

Rund 70.000 Ale­vi­t*in­nen leben aktuell in Berlin – europaweit die größte Gemeinde. Betritt man ihren Raum in Kreuzberg, sieht man bereits am Eingang die Fotos der Brandopfer von Sivas. „Dieses Ereignis hat eine zentrale Bedeutung für uns und unsere Identität“, sagt Vorstandsmitglied Melinda Özgül. Die Studentin ist Mitte 20, sie war damals noch nicht geboren. Sivas sei ein transgenerational vererbtes Trauma, sagt sie: „Wenn ich meinen Vater erzählen höre, wie seine Vorbilder verbrannt wurden, traumatisiert es auch mich. Er spielt selbst die Bağlama [die türkische Langhalslaute], er hat zu diesen Menschen aufgeschaut.“

Seit dem Anschlag habe die Selbstorganisierung der Ale­vi­t*in­nen noch einmal an Bedeutung gewonnen, sagt Özgül. „Wir wollen aber nicht in der Opferrolle bleiben, wir stellen auch Forderungen.“ Eine davon: Der Ort des Brandanschlags soll in ein Museum umgewandelt werden. Utanç Müzesi, das „Museum der Schande“. Bisher weigert sich die türkische Regierung.

„In unsere Köpfe eingebrannt“

„Wir sind mit diesen Bildern aufgewachsen, sie haben sich in unsere Köpfe eingebrannt“, erinnert sich der Linken-Abgeordnete Ferat Koçak, dessen kurdische Familie aus Sivas stammt. „Der Anschlag auf das Madımak-Hotel fiel in die gleiche Zeit wie die rassistischen Angriffe in Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen. Ich habe mich damals gefragt: Wenn es Rassismus und Faschismus sowohl hier als auch in der Türkei gibt, wo gehöre ich dann hin, wo bin ich willkommen?“

Er habe sich entschieden, Berliner zu sein und internationalistisch gegen Rassismus zu kämpfen. „Wir werden dort massakriert, wir werden hier ermordet. Als kurdische Aleviten, die in Deutschland aufgewachsen sind, haben wir nicht den Luxus, ruhig zu sein.“ Dass es in Berlin an diesem Sonntag wieder eine Demonstration gibt, findet Kocak sehr wichtig: „Die Ideologie des Sivas-Massakers ist in der Türkei Staatsräson geworden.“ Dass aktuell viele Menschen von dort fliehen wollen, müsse ein Signal für die deutsche Politik werden, die Türkei nicht mehr als sicheres Herkunftsland zu betrachten. „Gedenktage, an denen wir an Sivas erinnern, sind auch wichtig, um auf die aktuelle politische Lage in der Türkei aufmerksam zu machen“, sagt Koçak.

 

Dass die zentrale Demonstration zum 30. Jahrestag in Berlin stattfindet, hat einen besonderen Grund: Der gewalttätige Mob in Sivas umfasste rund 15.000 Personen, von denen rund 100 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Einige der Täter konnten sich allerdings rechtzeitig ins Ausland absetzen, neun von ihnen nach Deutschland. 2019 hatten die damaligen Grünen-Abgeordneten Benedikt Lux und Fatoş Topaç im Namen einer Angehörigen Anzeige erstattet, doch bisher kam es zu keinem Urteil. Die Generalbundesstaatsanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, sie sei für das Verfahren nicht zuständig und habe es an die Berliner Staatsanwaltschaft weitergeleitet.

Von dort erhielt die taz bis Redaktionsschluss keine Auskunft über den Stand des Verfahrens. Topaç ist von der Berliner Justiz enttäuscht. „Ich kann es absolut nicht verstehen und bedaure es zutiefst. Neben den vielen bekannten Dimensionen dieses Verbrechens ist es doch gerade für in Berlin lebende Angehörige der Opfer unerträglich, dass nicht gehandelt wird“, sagt sie.

Da das Völkerstrafgesetzbuch zum Tatzeitpunkt noch nicht in der heutigen Form galt, ist eine Einstellung des Verfahrens zu vermuten. Lux, der mittlerweile wieder als Anwalt tätig ist, sieht die Chancen für eine Verurteilung der Täter dennoch als offen an. „Gäbe es neue Beweise, könnte man das Verfahren wieder aufnehmen“, sagt er.

Laut Büyükgöl wäre das kein Problem. „Ich kann alles beweisen!“, sagt er aufgebracht und fügt hinzu, „beziehungsweise unsere Anwälte in der Türkei.“ Alles sei sehr detailliert dokumentiert, wozu auch die Fernsehübertragung am Tag des Anschlags beigetragen habe. Büyükgöl ist sich sicher, dass die Täter gut zu identifizieren wären – wenn man denn wollte. Ihm ist es ein wichtiges Anliegen, dass die in Deutschland lebenden Angreifer auch hier vor Gericht gestellt werden. „Es ist sogar eine internationale Angelegenheit, weil dort Menschenrechte verletzt wurden. Es wurden Menschen verbrannt“, ergänzt Özgül.

Warum handelt die deutsche Justiz so zögerlich? „Ich glaube, dass die deutsche Regierung ganz genau weiß, wo die Gefahren liegen, und aus politischem Interesse den Schritt nicht geht“, ist sich Özgül sicher. „Das Verfahren gegen die Täter ist ja nur ein Problem, das wir als Ale­vi­t*in­nen ansprechen. Was ist mit den faschistischen Vereinen, die aus der Türkei gesteuert werden? Wie können deren Strukturen hier Fuß fassen?“

Konkrete Angst vor den Tätern habe man zwar nicht, sagen Özgül und Büyükgöl. „Aber die Ideologie wird hier geduldet. Das ist ein großes Problem.“ Özgül erinnert daran, dass erst kürzlich eine alevitische Gemeinde im nordrhein-westfälischen Düren angegriffen wurde. Sie wünscht sich von der Politik und der Mehrheitsgesellschaft mehr Unterstützung. „Echte Solidarität, keine Doppelmoral! Wir sind Teil der deutschen Gesellschaft und wollen als solcher auch geschützt werden.“

Gerechtigkeit sei ein zentraler Wert der Alevit*innen, sie stellten sich in ihrer Geschichte immer auf die Seite der Unterdrückten und bezahlten dafür auch mit ihrem Leben, sagt Özgül. „Von unserer Seite geht keine Gewalt aus, das gehört nicht zu unserer Kultur und unserem Glauben“, ergänzt Büyükgöl. „Mit unserer Demonstration wollen wir niemanden stören und auch keine Angst machen. Wir möchten die Erinnerung an Sivas bewahren, damit es nicht vergessen wird.“

Viele der Plakate seien auf Deutsch verfasst, um den Ber­li­ne­r*in­nen ihr Anliegen verständlich zu machen. Die Jugendlichen aus der Gemeinde würden am Rande der Demonstration Flugblätter verteilen, um Pas­san­t*in­nen über die Ale­vi­t*in­nen und das Sivas-Massaker zu informieren. Büyükgöl hat viel Verständnis dafür, dass immer noch viele Deutsche nicht genau wissen, wer die Ale­vi­t*in­nen eigentlich sind. „In den 90ern waren wir viel mit uns selbst beschäftigt. Wir haben es nicht geschafft, uns der deutschen Gesellschaft richtig vorzustellen“, sagt er. „Aber mit unserem Verein haben wir jetzt bessere Möglichkeiten.“

Nur nicht dem Ansehen der Stadt schaden

„Sivas ist kalt“, sagt Büyükgöl plötzlich. Er meint nicht das Wetter, sondern die Atmosphäre. Vor einigen Jahren reiste er zur Gedenkfeier dorthin. „Ich stand vor dem Madımak-Hotel, und vor meinen Augen tauchten die Bilder auf, die wir im Fernsehen gesehen hatten. Ich sah die Gesichter von Hasret Gültekin, Metin Altıok und all den anderen.“ Währenddessen habe man ihn aus den umliegenden Gebäuden beobachtet. Viele Bewohner von Sivas sind wütend auf die jährlich anreisenden Ale­vi­t*in­nen – die schadeten dem Ansehen der Stadt, meinen sie.

Ähnliche Eindrücke schildern diejenigen, die in diesem Jahr an den Brandanschlag auf die Familie Genç in Solingen erinnerten. Nicht dem Ansehen der Stadt schaden – vielen ist das wichtiger als die Aufarbeitung eines menschenverachtenden, rassistischen Verbrechens. Gerade deshalb besteht die alevitische Gemeinde darauf, ihr Gedenken und ihre Forderung nach Gerechtigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen.

Der Gedenkmarsch führt am Sonntag, 2. Juli, ab 12 Uhr vom Hermannplatz zum Oranienplatz.

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